Variante 2

„Hömma…“

Über das eigene Leben berichten. Da stellen sich unweigerlich ein paar Fragen: Wo fang ich an? Ist mein Geburtsjahr ein guter Anfang? Oder stellt es eher die Wasserscheide dar zwischen familiärer Prägung und eigener Welterfahrung? Und was ist eigentlich Heimat? Ist das ein Ort oder ein Gefühl?

Dortmund in den 60ern. Kohle, Stahl, Malocher. Oder wie mein Opa zu sagen pflegte: Bier, Boxen, Borussia. 1965 ist nicht unbedingt ein bedeutendes Jahr gewesen. Das Haus meiner Großeltern wurde fertig, immerhin. Es war der Traum vom eigenen Heim in einem schönen Vorort, weit weg vom Lärm der Innenstadt. Knapp 50 Jahre später steht es zum Verkauf. Keiner in der Familie möchte es haben. Und sonst so?

Sicher lassen sich viele heitere, ernste, lustige und abstruse Ereignisse finden, die in diesem Jahr passiert sind: Frankreich schießt einen Sateliten namens Asterix ins All (wusste ich nicht), der Vietnamkrieg eskaliert mit der massiven Flächenbombadierung durch die USA, der Meidericher SV (später MSV Duisburg) spielt in der Bundesliga (Bayern München noch nicht), die ersten Fotos eines Embryos im Mutterleib werden veröffentlicht (ich bin es nicht), die Queen besucht West-Deutschland, im Ausschwitzprozess in Frankfurt/a.M. werden aberwitzig milde Urteile verkündet und der Supper Guppy, mein Lieblingsflugzeug aus Kindertagen, absolviert seinen Jungfernflug.

Aber von den vielen Jahrgängen ist der 65er eher einer der unauffälligen. 1964 war der geburtenstärkste Jahrgang des Jahrhunderts. Und 1968 ging als Jahr der Liebe in die Analen der Hippiebewegung ein. An beiden ziemlich deutlich dran vorbei gerauscht. 1961 wurde die innerdeutsche Grenze dicht gemacht. Da war ich noch nicht mal in den wildesten Fantasien meiner Eltern ausgemalt. Und doch bin ich das Resultat einer innerdeutschen Migrationsgemeinschaft.

Meine Großmutter mütterlicherseits musste zunächst ihr herrschaftliches Großanwesen in Masuren verlassen und ‚mit nassen Wolldecken durchs brennende Königsberg‘ (Zitat meiner Urgroßmutter an jedem Sonntag, an dem in großem Familienkreise gegessen wurde), um dann in Tannroda/Thüringen mit meinem Großvater, einem in einer Dorfkneipe aufgezogenen einheimischen Holzfachmann, dessen Vater aus Böhmen eingewandert war, meine Mutter in die Welt zu bringen. Nach der Flucht aus der DDR 1953, die meine Großeltern in offensichtlich weiser Vorausahnung bereits am 2. Juni unternahmen, landeten sie nach einigen Umwegen im östlichen Ruhrgebiet, mitten in Dortmund. Dort traf meine Mutter auf meinen Vater, der zu gleichen Teilen aus einer protestantischen Eisenbahnerfamilie und einer katholischen Beamtensippe stammte. Mein Großvater väterlicherseits war angesichts des Rates seines nicht gerade ökumenisch eingestellten Pastors, meine Großmutter müsse vor der Heirat selbstverständlich zum Katholizismus konvertieren, kurzerhand aus der katholischen Kirche ausgetreten.

So bin ich also ein Viertel Ostpreuße, ein Viertel Thüringer und doch deutlich mehr als die Hälfte ein Kind aus dem Pott. Oder ein Westfale, je nach Sichtweise. Den Ostpreußen in mir hab ich noch nicht gefunden. Es wäre der einzige Rest großbürgerlicher Tradition. Das schreckt dann doch eher ab.

Mein Urgroßvater fuhr das erste Auto im Dorf am großen See in Masuren. Es gibt einen Zeitungsartikel mit Foto über einen Zusammenstoß mit einem Pferdefuhrwerk. Blech rammt Holz, Neu trifft Alt, die Moderne überholt die Tradition. Es entstand nur geringer Sachschaden, das Pferd kam mit einem Schrecken davon. Mein Urgroßvater kaufte einfach ein neues Auto.

Halt. Stimmt alles gar nicht. Sagt meine Mutter. Die waren nicht reich, das war der andere Teil der Familie. Die Cousinen meiner Oma, die hatten als Kinder ein Dienstmädchen und konnten jeden Tag auf den eigenen Pferden reiten. Aber das mit dem Auto, das stimmt. „Ein Horch“, sagte mein Opa immer leicht versonnen und betrachtete das Stück Papier, welches dann wieder in der Kiste mit den Erinnerungsfotos und Sammelstüclen verschwand (darunter auch die Sonderausgabe des Magazins QUICK zum Attentat auf Kennedy).

Meine Oma hat mir oft erzählt, dass mit der Wirtschaftskrise das Vermögen ihres Vaters quasi über Nacht um 90% reduziert wurde. Davor war die Familie für die damaligen Verhältnisse wohlhabend, einige sogar reich. Mein Opa, zu meiner Grundschulzeit ein mittlerweile gut beschäftigter Steuerberater, erklärte mir mit leicht verständlichen Worten, was eine Hyperinflation ist. Ich fand den Gedanken faszinierend. Was für ein Gefühl muss das sein, wenn Du mit einem Korb voller Geld einkaufen gehst und Dich dabei beeilst, weil Du weißt, dass die vielen Scheine mit den vielen Nullen minütlich ihren Wert verlieren? Und dann kaufst Du Eier, Butter, Schmalz und Zucker und backst einen Kuchen, Wert circa eine Million Reichsmark. Den gleichen Käsekuchen, der oft vor mir stand, nachdem meine Oma ihn mit mir gebacken hatte.

In meiner Familie wurde immer viel gebacken und gekocht. Ich weiß nicht, ob das mit dem Wunsch geschah, Tradition aufrecht zu erhalten oder bloße Gewohnheit war. Vielleicht war es nur die einfachste und nahe liegendste Möglichkeit, den Krieg und die im wörtlichen Sinne mageren Jahre danach zu vergessen. Wer sich mit Rüben, Kohl, dünnen Suppen und Ersatzkaffee über Wasser hält, dem wird die bunte Warenwelt westdeutscher Wohlstandsgesellschaftsupermärkte in den 1960ern ein willkommenes kulinarisches Bewältigungsprogramm gewesen sein. Ich habe als Kind am eigenen Leib erlebt, was es bedeutet, wenn die Großeltern den Mangel der Nachkriegsjahre, den sie mit der Tochter erlebten, am einzigen Enkel mit der berühmten ‚guten Butter‘ kompensieren. Heute esse ich keine mehr.

Aber das Kochbuch, welches meine Oma benutzte, das steht bei mir im Regal. Es umfasst etwa 1000 Seiten, und in ihm finden sich all die Rezepte, die längst aus dietätischen Erwägungen oder Gründen des Zeitgeistes in der Mülltonne der häuslichen Kulturgeschichte gelandet sind. Ich hab diese Gerichte nicht nur gegessen, ich habe auch gelernt, wie sie zubereitet werden. Und manchmal backe und koche ich genauso wie früher, obwohl ich gar nichts bewältigen muss. Außer ab und zu eine Heimniederlage des BVB, dann koche ich mit Bier in der Hand weiter. Tradition, Gewohnheit? Wer weiß. Vielleicht ist es auch die Antwort auf die eingangs gestellte Frage: Was ist Heimat? Ein Ort oder ein Gefühl? Für mich ist es vor allem die Kombination aus Geruch und Geschmack und die Handfertigkeit, beides in Form von Klößen oder Kuchen durch langwieriges Arbeiten in der Küche entstehen zu lassen.

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