Gestern enstand in einem Gespräch mit einer guten Freundin der folgende Gedanke. Frage: Was haben der Fußballsport und die Corona-Pandemie gemeinsam? Antwort: Das Expertentum. Oder besser: Die Expertentümelei. Erst waren alle Nationaltrainer. Jetzt sind alle Virologen.
Nicht nur ähneln sich der Ball und der Virus (unter dem Mikroskop betrachtet ein Fußball mit Noppen), sie erwecken auch beide in vielen Bundesbürgern den zwanghaften Reflex der spontanen Meinungsäußerung. Schnelle Lösungen werden feilgeboten, Methoden werden präsentiert, das Geschehen wird kommentiert, und das alles geschieht im Duktus des professionell ausgebildeten Fachexperten.
Nun war auch schon beim Fußball den meisten klar, dass bloßes Betrachten eines Vorgang den Betrachter nicht zwingend zum Experten macht. Wer etwas sieht, versteht nicht automatisch die im Hintergund ablaufenden Prozesse, welche zum beobachteten Vorgang führen. Wir sehen einen perfekt geschlagenen Pass, den ein Verteidiger aus der eigenen Hälfte zielgenau in den Lauf eines aufs Tor stürmenden Mitspielers spielt. Was wir nicht sehen, sind die Methoden, mit welchen der Trainer arbeitet, um die Zielgenauigkeit solcher Pässe oder die Antizipation des Verteidigers im Bezug auf den konkreten Spielverlauf und damit die Laufwege seiner Mitspieler zu trainieren.
Es lassen sich also aus der Beobachtung keine konkreten Rückschlüsse darauf schließen, wie etwas erarbeitet wird. Wir sehen immer nur das Ergebnis und stellen dann Vermutungen an. Außerdem beobachten wir das Spiel von schräg oben, also aus einer völlig anderen Perspektive als die im Spiel befindlichen Akteure. Dieser Blick ermöglicht es uns, die Laufbewegungen der Spieler als Ganzes zu erfassen, daraus kurzfristige Prognosen über die zu erwartenden Spielzüge zu treffen und damit die größeren Zusammenhänge der Partie zu erkennen. Wenn überhaupt, dann sind wir nur die Experten unserer eigenen Beobachtung, mehr aber auch nicht. Und selbst die Reflexion der eigenen Beobachtung würde vermutlich keiner intensiveren Befragung nach dem Spiel standhalten, weil wir das Gesehene fast ebenso schnell wieder löschen, wie wir es aufgenommen haben. Denn wir möchten ja gleichzeitig das Spiel genießen.
Wir wechseln also in schneller Bewegung zwischen zwei Positionen: Unreflektiertes Unterhaltungsbedürfnis hier und pseudo-wissenschaftliche Analysetätigkeit dort. Wir tauchen ein ins Geschehen und beobachten gleichzeitig aus der Distanz. Anders ausgedrückt: Etwas ist gleichzeitig an- und abwesend. Der sich spontan aufdrängenden Assoziation dieses Phänomens mit der Superposition in der Quantenphsyik widme ich mich in einem der nächsten Beiträge: Tun oder Nichtstun, das ist hier die Frage.
Etwas Ähnliches erleben wir jetzt mit der Corona-Krise: Immersion und Distanz. Allerdings fehlt hier der Filter der Sportverantstaltung. Wir befinden uns nicht in oder neben einem Spiele, denn jetzt sind wir die handelnde Akteure in dem größten menschlichen Versuch seit dem letzten Weltkrieg. Andererseits mutieren wir – wie ein Virus – in atemberaubender Geschwindigkeit zu Analysten, die auf Basis von wahllos gesammelten und zufällig aufgeschnappten Wirklichkeitsschnipseln dieses Handeln kommentieren und einordnen wollen. Wir geben uns gegenseitig Ratschläge, was nun unbedingt getan werden muss, was wir auf jeden Fall vermeiden sollten, wir bewerten, wer sich richtig und wer sich falsch verhält und damit entweder verantwortungsvoll handelt oder alle Mitmenschen einem lebensgefährlichen Risiko aussetzt.
Wir treffen Prognosen über Infizierungswege, Kurvendiagramme, zeitlich Abfolgen von medizinisch und politisch notwendigen Maßnahmen, wir erklären uns gegenseitig den zellulären Aufbau des Virus und die sinnhafte Aufteilung der Gesellschaft in unterschiedlich gefährdete Risikoruppen. All das tun wir, obwohl die meisten von uns noch vor ein paar Monaten wahrscheinlich nicht mal den Unterschied zwischen Bakterien und Viren befriedigend hätten erklären können und vermutlich mit der Detung des Begriffs der Triage ebenso überfordert gewesen wären wie nun die Mediziner, die genau diese Triage als Entscheidungsgrundlage für den Einsatz von Ressourcen und damit über Leben und Tod heranziehen müssen.
Wir beobachten ständig alle anderen und bewerten ihr Verhalten, erkennen dabei aber nicht die eigene Beschränktheit unseres Blicks. Gleichzeitig werden wir von den anderen beobachtet und dabei dem selben kritischen Blick unterworfen wie sonst die Spieler bei Sportveranstaltungen. Äußerungen wie „Ich hätte ja..“ oder „Warum rennen die denn da hin?!“ zeigen ja nicht, dass wir alle verstehen, worum es geht. Sie zeigen, dass wir – aufgrund unsere menschlichen Fähigkeit zu projezieren – lediglich in der Lage sind, uns in bestimmte Situationen hineinzuversetzen und dann gedanklich durchzuspielen, wie wir reagieren würden. Dieses „Was wäre wenn…“ verleugnet aber oft unsere eigenen Beschränkungen. So wie Kinder problemlos in der Lage sind, sich als Superheld durch die Welt zu bewegen und dabei häufig Gefahren unterschätzen, so verlieren auch wir Erwachsene bei dem gedanklichen Planspiel einer Gefahrensituation die realistische Einschätzung unsere eigenen Konditionierung und den uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten.
Wir können den Pass eben nicht so spielen, dass er perfekt auf dem Fuß des Stürmers landet. Wir können uns das wünschen, wir können das denken, wir können es visualisieren. Das allein ist ja schon eine beachtliche menschliche Fähigkeit. Aber wenn wir aufgefordert werden, uns auf den Platz zu stellen und das Gesehene nachzuahmen, stehen wir plötzlich dumm da. Warum? Weil wir weder dazu ausgebildet wurden noch die inneren Vorgänge kennen. Wir besitzen, um es mal sportwissenschaftlich zu sagen, weder die technischen Fertigkeiten noch die mentalen Fähigkeiten eines Profis.
Die Corona-Krise sollte uns eigentlich aufzeigen, dass wir in erster Linie Menschen sind und nicht Experten fürs Menschsein. Anders gesagt: Wir könnten durchaus Experten fürs menschliche Dasein werden, wenn wir zulassen würden, unser fehlerbehaftetes, widerlogisches und irrationales, kurz: allzu menschliches Handeln und Denken zuzulassen und uns mit den ureigenen Widersprüchen zu arrangieren, die unser Dasein in dieser Welt mitsichbringt. Dafür müssten wir alle uns allerdings mit ein paar unbequemen, aber ziemlich interessanten Gedanken auseinandersetzen.
Siehe dazu den Beitrag: Tun oder Nichtstun, das ist hier die Frage.