Renault

„Hör auf damit. Hör jetzt sofort auf! Willst Du jetzt wohl damit aufhören?! Du hörst jetzt sofort auf! Kannst Du nicht hören?!“ (Mein Großvater Rudolf, geb. 1917 )

Mein Großvater konnte damals, als ich sechs oder sieben Jahre alt war und andauernd die Schlüssel zu seinem Schreibtisch entwendete, nicht ahnen, dass ich nach vielen Versuchen, meinem Leben einen sinnvolle Richtung zu geben, mein Studium abbrechen und Schauspieler werden würde. Wie auch? Wie sollte er das Stehlen und sorgfältige Verstecken seiner Schlüssel mit der darstellerischen Ambition in Verbindung bringen, die mich Jahrzehnte später umtrieb? Hab ich schon als kleiner Junge ganz bewusst Konflikte provoziert, um dann zu beobachten, wie Menschen sich verhalten, wenn sie frustriert und hilflos ihrem Schicksal ausgeliefert sind? War das bereits praxisnahes Rollenstudium oder doch nur kindlicher Spieltrieb?

Mein Großvater war trotz seiner starken Kurzsichtigkeit keineswegs ein kurzsichtiger Mann. Die starke Brille, die er tragen musste, um seinen Augenfehler zu korrigieren, bedeutete für mich die Inkarnation der Allwissenheit. Ich träumte davon, so zu sein wie er, auf alles eine Antwort wissend, und ich war fasziniert von der Regelmäßigkeit und Sicherheit seines Lebens.

Ein erster, grober Entwurf meiner Zukunft, in meiner kindlichen Phantasie angefertigt, sah vor, dass ich im Sommer als Steuerberater und im Winter als Skilehrer tätig sein würde. Mein Opa konnte zwar nicht Skifahren, aber als Steuerberater war er einsame Spitze. Ich konnte damals schon ganz gut Skifahren, hatte aber von den komplexen Problemen des Steuerrechts so gut wie keine Ahnung. Die Fertigkeiten des Holzbrettgleitens hatte ich mir während der zwei oder drei Winter in den Dolomiten hart erarbeitet. Eine Hundertpunkte-Karte für den Tellerlift hielt damals ungefähr eineinhalb Stunden. Der Anreiz bestand weniger darin, formschöne Figuren im Schnee zu hinterlassen, als möglichst schnell von oben nach unten zu gelangen. Die zeitliche Relation zwischen der Langeweile im Lift und dem Geschwindigkeitsrausch der Abfahrt an unserem Anfängerhügel muss ungefähr Sieben zu Eins betragen haben, jedenfalls schien uns dieser Tellerlift die denkbar schlechteste Lösung, um das Problem der Beförderung in den Griff zu bekommen. Erst Mitte Zwanzig habe ich damit begonnen, das Skifahren als ein besonderes Erlebnis zu betrachten, welches mich anregt, über die Relation zwischen Mühe und Freude nachzudenken, und ich messe seit meiner ersten Skiwanderung dem Auf eine ebenso große Bedeutung bei wie dem Ab.

Auch im Leben eines Steuerberaters gibt es Auf- und Abs, jedoch mit vertauschter Bedeutung. Im allgemeinen bedeutet das Auf einen Lust- oder Geldgewinn, das Ab im besten Falle noch ein Mehr an Privatleben. Mal sah ich meinen Opa häufig, häufig aber gar nicht. Er arbeitete in einer Firma im Gebirge. Leider nicht in den Dolomiten, sondern im Sauerland. Jeden Tag stand er um fünf Uhr auf, frühstückte mit meiner Oma und fuhr dann um kurz vor Sechs das Auto aus der Garage. Meistens wurde ich früh genug geweckt, um an dem majestätischen Schauspiel teilzuhaben. Dies geschah auf meinen eigenen, ausdrücklichen Wunsch, denn ich wollte meinen Großvater morgens noch einmal sehen, bevor wieder ein langer, langweiliger Tag ohne ihn seinen Lauf nahm.

Aus der Garage kam immer ein Renault. Schwach erinnere ich mich an einen roten R 10, doch es ist mir unmöglich zu sagen, ob er mir wirklichen aus jenen Tagen im Gedächtnis geblieben ist, oder ob ich ihn in den folgenden Jahren so oft auf Fotos betrachtet habe, dass er mich bis zu meinem Lebensende begleiten wird, zusammen mit der braunen Latzhose aus ekligem Kunstleder und den komischen englischen Schuhen, die ich auf eben diesen Fotos trug.

Ich hockte also auf der Fensterbank und schaute zu, wie mein Opa über die Jahre langsam aber sicher einen Renault nach dem anderen aus der Garage fuhr. Mal einen Grünen, mal einen Beigen, und einmal auch einen Zitronengelben, der mir wegen seiner Farbe besonders gut gefiel. Ich belohnte das gelungene Kunststück immer mit einem ekstatischen Winken, das ich erst beendete, wenn die Renaults am Straßenende verschwunden waren. Manchmal, wenn ich nicht so müde war, rannte ich auch ganz schnell aus dem Büro, das über der Garage lag, in den Erker im Wohnzimmer, von wo aus man eine wesentliche bessere Aussicht hatte. So vergingen einige der glücklichsten Jahre meines Lebens.

Von oben sahen alle Renaults komisch aus, sie wirkten irgendwie lang und schmal, und ich musste oft an die starken Winde denken, die im Sauerland über die Brücken blasen. Aber mein Opa wollte nie einer anderen Marke seine Gunst schenken, da konnten seine Bekannten noch so viele Mercedes und BMW fahren. Oder Opel. Ich habe später auch einen Renault besessen, einen Fuego, der Klein-Porsche für Franzosen, den ich über alle Maßen liebte, der aber leider nicht so lange hielt wie die meines Opas. Allein die Heckklappe hätte im Schadensfall mehr gekostet als ein gebrauchter Kadett C. Dafür hatte er keine Sitze sondern Sessel, die ich nach der feierlichen Verschrottung noch eine ganze Weile lang als solche im Wohnzimmer stehen hatte und die mir unter Zivi-Kollegen den Ruf eines Intellektuellen einbrachten.

Beim Versuch, meinen Ford Granada Kombi (Gott hab ihn selig), das ’schwarze Schaf‘ unter den Autos unserer Familie, in die Garage meines Opas zu manövrieren, riss der Auspuff ab, und die vordere Stoßstange hebelte einen der schmalen, roten, querliegenden Steine, die zur besseren Traktion in die Auffahrt eingelassen waren, aus seinem Fundament. Ob die Garage meines Opas mütterlicherseits schon beim Bau des Hauses (Nachkriegsarchitektur) ausschließlich für Renaults angefertigt worden war, habe ich nie herausfinden können. Interessant ist in diesem Zusammenhang aber die Tatsache, dass meine anderen Großeltern, also die Eltern meines Vaters, auch eine Garage besaßen, und dass diese Garage, die übrigens genauso alt ist wie ich, weil das Haus erst kurz vor meiner Geburt fertiggestellt wurde, kaum andere Erfahrungen machen wollte, als Wagen des Typs Renault zu beherbergen. Von einem Paar DAF’s abgesehen, die so klein sind, dass sie in jeder Besenkammer Platz fänden, zusammen mit dem Staubsauger oder dem Bügelbrett, hat sie ausschließlich Renaults den eigentümlichen mütterlichen Schutz gewährt, den Vögel ihren Kleinen im Nest bieten. Auch diese Garage hat aus ihrer Abneigung gegenüber anderen Autos keinen Hehl gemacht. Meine Oma fuhr mit einer solch unglaublichen Präzision und Häufigkeit diese zwergenhaften, holländischen Fahrzeuge gegen die Rückwand, dass keines der beiden länger als ein Jahr hielt. Und dann wurde die Garage mit einem Renault belohnt. Meine Oma sagte einmal zu meinem Opa, sie habe oft das zugegebenermaßen blödsinnige Gefühl gehabt, die Rückwand sei auf sie zugekommen, nachdem der Motor bereits ausgeschaltet gewesen sei. Bis zum Tod meines Großvaters Karl-Heinz fuhren sie einen Fiat Tippo, der bis zum Verkauf zwei Außenspiegel und einen Kotflügel samt Lichtanlage im Kampf um einen regensicheren Platz eingebüßt hatte. Ihr letztes Auto war dann wieder ein Renault. Danach wurde das Haus verkauft.

Wenn mein Opa Zuhause blieb, war der Tag gerettet. Ich hatte ihn endlich für mich, konnte ihn nach Herzenslust ärgern, indem ich seine Schlüssel versteckte, so dass er seine Akten nicht aus dem Schrank holen konnte, oder fiel ihm sonst wie auf den Wecker. Ich lernte früh, was es bedeutet, erpressbar zu sein, und ich zog früh meinen Nutzen daraus. Wir hatten also eine Menge Spaß, vermute ich mal.

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